Theaterstück 2022 Bericht - Jacobson-Gymnasium Seesen

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Die uns allen innewohnende Gewalt

Die Theater-AG des Jacobson-Gymnasiums spielte „Der Gott des Gemetzels“

von Dirk Stroschein
Nein, um die Kinder, den gewalttätigen "Vorfall" zwischen ihnen, geht es im Grunde genommen nur am Rande. Das wird den Besucherinnen und Besuchern der diesjährigen Aufführung der Theater-AG des Jacobson-Gymnasiums im Laufe des Stückes immer klarer. Das Stück, "Der Gott des Gemetzels", wurde in den Nullerjahren von der französischen Autorin Yasmina Reza für die Bühne verfasst und entwickelte sich schnell zu einem der international erfolgreichsten Theaterstücke der letzten Jahrzehnte. Vor zehn Jahren wurde es zudem unter der Regie von Roman Polanski mit einem Starensemble in Paris verfilmt.
Wir haben Fotos von der Theateraufführung
Nun also Seesen: die Bühne der Aula im Schulzentrum wurde zum Schauplatz eines intensiven Kammerspiels, einer Schwarzen Komödie in kleiner, hervorragender Besetzung unter der bewährten und ideenreichen Regie von Susanne Kettmann und Catja Croneberg. Bereits seit zwanzig Jahren leiten sie das Theaterspiel am Jacobson-Gymnasium und bewiesen in dieser Zeit bei ihrer Stückauswahl stets einen Sinn für formale Vielfalt und Abwechslungsreichtum bei beispielsweise einer selbstverfassten Revue, über einen Shakespeare-Klassiker, eine Filmadaption, eine Tanzgroteske bis zur Musicalkomödie, die Bühnentalent und Spielfreude bei den Schülerschauspielerinnen und -schauspielern weckten und zum Ausstrahlen brachten. Nur einmal, aufgrund der Covid-19-Pandemie, konnte das Eingeübte nicht dem inzwischen über die reine Schulgemeinde hinausreichenden, sich erweiternden Publikumsstamm präsentiert werden: 2020 musste die Aufführung der Abenteuergeschichte von Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" abgesagt werden.
Auf diese für alle und auch das Schultheaterspiel und den AG-Probenbetrieb "entsagungsreiche Zeit" wiesen die Regisseurinnen zu Beginn des diesjährigen Theaterabends in ihrer Vorrede noch einmal rückblickend hin, auch um ihre große Freude und Dankbarkeit zu betonen, in diesen Tagen wieder hier stehen zu können. In Anspielung auf und im Gegensatz zum Titel des Stücks des Abends könne man, so Susanne Kettmann, hier eher vom Wirken eines "gnädigen Gottes" sprechen. Die Auswahl eines Stückes mit kleiner Besetzung sei auch den Einschränkungen der Pandemie im Schulalltag („Kohortenregelung“) geschuldet und stehe für die besondere Kreativität fordernden Rahmenbedingungen dieser Zeit. Eine Besonderheit dieser Aufführung bestünde laut Kettmann weiterhin darin, dass die vier „erwachsenen“ Hauptdarsteller Chantal Kast, Rebecca Loske, Johannes Mertens und Hannah Sopalla alle dem diesjährigen Abiturjahrgang angehörten und kurz vor den Abschlussprüfungen letztmalig die Gelegenheit nutzten, ihr Können zu zeigen.
Alexander
Eröffnet wurde das Stück aber mit der Szene des „gewalttätigen Vorfalls“ zwischen den 11-jährigen Klaas-Lukas Leien und Fynn-Leon Merlich (unbeschwert und altersgemäß gespielt von den Jacobson-Siebtklässlern Simon Bajorat und Jan Kopyra), bei dem letzterem von ersterem zwei Schneidezähne ausgeschlagen werden. Ausgangspunkt und Rahmen für das Folgende, bei dem es allerdings eher um die „Kunst des zivilisierten Umgangs“ der Elternpaare miteinander gehen wird. Diese, so der Plot, treffen sich in der Wohnung der Leiens, um den Vorfall in Ruhe zu klären: Zivilisiert und pädagogisch, so wie es sich für tolerante, gebildete Menschen gehört. Doch schon kurz nach der Ankunft von Alexander und Sylvia Merlich, den Eltern des vermeintlichen „Schlägers“ Fynn-Leon, geraten die guten Absichten aus dem Blick und die Aussprache eskaliert. Und dies im Wortsinne: sich in Stufen steigernd.
Meint der, nicht nur bildlich gesprochen, überaus an seinem Handy „hängende“ Anwalt Alexander Merlich zu Beginn noch, dass es vielleicht nett wäre, „sich etwas genauer kennenzulernen“, werden sich die Protagonisten am Ende des Abends in einer Situation wiederfinden, in der Lebenslügen entlarvt und Fassaden eingestürzt sind. Das wird virtuos inszeniert, bisweilen selbstkasteiend zelebriert und dialogisch wie szenisch Schritt für Schritt auf die Spitze getrieben. Zur Freude des Publikums, aber doch alles andere als „nett“.
Alexander Merlich (Johannes Mertens) entlarvt sich selbst als moralisch flexibler Wirtschaftsanwalt, der mit immer knappem Zeitbudget (sein Blick auf die Uhr) diese Familienangelegenheit, wie sonst wohl üblich, einmal nicht allein seiner Frau Sylvia (Rebecca Loske) überlassen kann. Die wiederum wird, nicht nur in ihrer „Profession“ als Personal Coach, von ihm nicht für voll genommen, zeigt Zeichen eines „Make up/Makeover-Zwangs“ und wird sich auf dem „Höhepunkt“ nicht nur physisch einmal so richtig, also mehrmals, auskotzen: „Es tut doch gut, einmal alles rauszulassen.“ Ihr Sohn spielt auch im Familienalltag, so klingt es durch, maximal eine Nebenrolle.
Auf der anderen Seite der Konfliktaufstellung das gleichgeschlechtliche „Gutmenschen-Paar“ mit Mel Leien (Hannah Sopalla), die „in der IT“ (ein weites Feld) arbeitet und eine eigene Gewaltfantasie mit Hamster „gestehen“ muss. An ihrer Seite die quirlige Erscheinung der künstlerisch bewegten und bewegenden Jol Schuster-Leien (Chantal Kast), Schriftstellerin in ihrer „afrikanischen Phase“. Dafür stehen authentische Zeugnisse, gegenständlich ausgestellt in einem fast schon schrein- oder museumsartigen „Ehrenregal“. Darin eine Malerei „Nairobi bei Nacht“, eine Sanduhr mit echtem Sahara-Sand (von einem Workshop in Mönchengladbach) oder die „Afrikanische Wanderpalme“ aus Braunschweig. Aber auch die Wertschätzung des Familienlebens wird objekthaft demonstriert, sei es durch die Urne mit der mütterlichen Asche oder dem „ersten selbstgewählten Spielzeug“ des Sohnes Klaas-Lukas. Gegenstände erzählen Geschichten und die Ausstellungsauswahl verrät einiges über die Sammler.
Du hättest in's Bad gehen sollen, Wauwau!
Holen Sie das Handy aus der Blumenvase!!!
In der zweiten Hälfte des Einakters nimmt das Geschehen von dieser Grundaufstellung aus zunehmend Fahrt auf. Auch schauspielerisch eskaliert die Darbietung zu immer neuen Höhepunkten: Die Spielfreude der Hauptdarsteller, ihr dynamisches, präzise getimtes Miteinander, die Stärke jeder und jedes einzelnen in der jeweiligen Rolle zeigt Wirkung beim Publikum: Freude über das Spiel auf der Bühne tritt vor das immer mitschwingend Bedrückende der Konfliktsituation. Schwarzer Humor und das Lachen im Halse.

Der Schlagabtausch („Eine Beschimpfung ist auch eine Aggression“) wird im Schlussdrittel maßgeblich durch den Konsum alkoholischer Getränke noch befördert: „Vielleicht wäre ein Schlückchen Cognac gut, um uns aufzulockern.“ Und spätestens als dieser ins Spiel kommt und durch die Kehlen rinnt, sind die Ausgangs-Fraktionen gesprengt. Vom „Hör auf, Familienangelegenheiten vor Fremden auszuplaudern“ bis zur Bekundung „So langsam werden Sie mir sympathisch“ ist es auf einmal ein kurzer Weg. Die Zungen sind gelockert, bisher nur Gedachtes, auch schmerzhaft Empfundenes, wird nun offen ausgesprochen. Zurückhaltung ist passé: „Was ist unser Leben? Nichts, nichts, nichts“ (Sylvia). Oder: „Es geht hier einfach auch einmal ums Recht haben!“ (Alexander). Oder: „Was uns beherrscht, können wir nicht beherrschen“ (Mel).
Am Ende haben alle Gewalt erfahren, Gewalt ausgeübt. „Ich glaube an den Gott des Gemetzels, der besteht immer“, hatte sich Alexander Merlich an einer Stelle bekannt. Zu Beginn war man noch der, wenn auch etwas unentschieden-widersprüchlich formuliert, übereinstimmenden Meinung gewesen: „Wenn Kinder sich streiten, soll man sich raushalten. Aber Gewalt geht uns alle an.“

Ja, hätten sie sich rausgehalten, diese Eltern. Dann wäre die in allen schlummernde Gewalttätigkeit nicht aufgeweckt, bloßgestellt worden. Wäre das besser gewesen? Und nein, um die Kinder, den anfänglichen Vorfall ging es eigentlich nie wirklich. Die spielen in der Schlussszene übrigens wieder miteinander, in bestem Einvernehmen, - so scheint es.

Tosender Applaus des Publikums war der höchstberechtigte Lohn für die darbieterische Bestleistung der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler sowie der beiden Regisseurinnen. Im Stück selbst heißt es an einer Stelle: „Theater ist einfach nicht so spannend, – er soll sich ein richtiges Hobby suchen.“ Die diesjährige Aufführung der Theater-AG des Jacobson-Gymnasiums straft den Satz Lügen. Es bleibt zu hoffen, dass sich davon auch zukünftige Schülergenerationen für die Theater-AG überzeugen lassen und uns weitere Aufführungen mit dieser Leidenschaft und Klasse erwarten werden.
Ich weigere mich, mich auf dieses Niveau zu begeben!
Oh Gott - der Kokoschka!!!
"Afrikanischer Stammestanz"
Joleyn und Melanie
Meine Mutter ruht übrigens hier...
Fotos von Christopher Mertens
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